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Wahrheit gegen Hoffnung
Der vereinsamte Physiker Konrad erhält die Diagnose ALS. Gleichzeitig prognostiziert ihm sein Arzt, dass er nicht mehr viel Zeit zum Leben habe. Diese ungenaue Prognose reicht Konrad nicht. Als exakter Naturwissenschaftler muss er es präziser wissen. Folglich entwickelt er ein biomedizinisches Modell für seine Krankheit und flüchtet damit wie so oft in eine virtuelle Welt. Nach einigen Überlegungen und mehrfacher Überarbeitung findet er aus diesem Modell die vier Formeln, die seine Krankheit abbilden. Nachdem er alle Parameter eingesetzt hat, ergibt sich daraus zu seinem Entsetzen seine verbleibende Lebenszeit: 10 Tage. Zweifel und Glaube sowohl an der Diagnose wie auch an seinem Modell zerreißen ihn. Wahrheit gegen Hoffnung. Konrad geht zurück in seinen Erinnerungen und kommt dabei auf den Gedanken, in seiner Formel die Zeit rückwärts laufen zu lassen. Wenn das Modell seine Krankheit richtig abbildet, sollte er damit dem sicheren Tod entgehen. Er ist verzweifelt und braucht dringend jemanden, mit dem er über seinen Konflikt reden kann. Als einsamer und introvertierter Mensch bleiben ihm nur wenige Menschen, die nach reiflicher Überlegung allerdings nicht als verständnisvolle Zuhörer geeignet sind: Seine erste von ihm geschiedene Frau leidet an Frontotemporaler Demenz. Unumkehrbar, sie hat keine Erinnerung mehr an die gemeinsame Zeit mit Konrad. Mit seiner aus dieser Ehe stammenden Tochter Regina hat er nie ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen können. Seine zweite, uneheliche Tochter Antonia macht ihm zeitlebens Vorwürfe, dass er vergeistigt sei und keine Zeit für sie habe. Bleibt nur noch seine Partnerin Huberta, obwohl ihre Partnerschaft nicht von Vertrauen geprägt ist. Während er ihr von seiner unheilbaren Krankheit auf der Fahrt zur Geburtstagsfeier ihres Enkels Leonhard berichtet, kommt sie dabei ums Leben, als Konrad in einem unachtsamen Augenblick mit dem Auto in eine Baustelle rast. Seither macht er sich heftige Vorwürfe und wünscht sich noch einmal die drei, vier Sekunden zurück, in denen er achtsam an der Baustelle vorbeifährt. Antonia schürt diese Vorwürfe und macht ihren Vater für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. Bei weiteren Recherchen zu seinem Modell stolpert er in der Universitätsbibliothek über einen Namen, in dem er einen ehemaligen Kommilitonen Beppo wiederzuerkennen glaubt. Er nimmt den Kontakt auf, trifft ihn und es ist in der Tat Beppo, der als Biologe und Todesforscher an der Universität Zürich lehrt. Sie erinnern sich zunächst an ihre gemeinsame vergangene Zeit. Konrad kommt jedoch schnell auf seine Krankheit und seinen Konflikt mit der endlichen Lebensprognose und sein Modell zu sprechen. Statt Konrads physikalischer Sicht vermitteln Beppo und seine Frau Theresa, die als Psychologin agiert, ihm ihre biopsychosoziale Sicht der Zeit: Erfahrung, Dasein, Erwartung. Nach diesem Disput wird Konrad bewusst, dass seine Modellwelt, in der er sich als Physiker seither bewegte, nicht das Maß aller Dinge ist. Das Leben ist keine Uhr, die tickt, sagt Beppo. Und dann berichtet Beppo von der Nahtoderfahrung der Probanden bei seinen Forschungen. Wie sie zurückkehren aus dem klinischen Tod und von einem himmlischen Zustand berichten, in dem sie sich befanden. Das scheint für Konrad die Lösung aus seinem Konflikt. Am 10. Tag nach der Diagnose probiert er es aus. Beppo gibt ihm genaueste Anweisung, wann er das Betäubungsmittel absetzen muss, um aus dem klinischen Tod wieder zurückzukommen. Doch Konrad hat inzwischen resigniert vor der unrealistischen Vorstellung, dass die Zeit rückwärtslaufen kann. Er erkennt, dass sein Modell falsch ist: Zeitumkehr gibt es nicht. Folglich genießt er den himmlischen Zustand und will nicht mehr zurück.
Irgendwann ist Zeit, sich zu erinnern. Oder nach vorne zu schauen: wieviel bleibt noch? Lebenszeit, vergangen oder noch vor mir, verschwendet oder noch zu nutzen. Ich frage mich, wie geht es den Menschen, die ihrem Ende entgegensehen, aufgrund des Alters, einer unheilbaren Krankheit, eines Todesurteils. Manchmal möchte man gerne den Zeitstrahl umdrehen, von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit. Die Natur lässt es nicht zu. Alles ist spiegelsymmetrisch, nur die Zeit nicht. Der einzige Symmetriebruch in der Natur. Zeitumkehr macht bewusst, wie wenig bleibt.
Edgar Bernardi, beobachtender Physiker, versteht sich als emotionaler statt kopfgesteuerter Naturwissenschaftler. Seinem Debütroman Licht des Schattens, eine Coming-of-Age-Geschichte, folgte Der rot-blaue Boccalino über polarisierende Menschen in einem kleinen Tessiner Dorf - wie in der großen Welt. In Zweistromland erzählt er vom Identitätsverlust der Ostdeutschen, die sich in einem wiedervereinten Deutschland noch immer wie Bürger zweiter Klasse fühlen. Mit Was die Welt im Innersten zusammenhält möchte er Kindern die faszinierende Welt der Physik näherbringen. Nun kehrt er mit dem vorliegenden Roman Zeitumkehr, der von der Hoffnung der Umkehrbarkeit der Zeit lebt, wieder in die Belletristik zurück.
Interview mit dem Autor zu seinem neuen Buch Zeitumkehr - exklusiv bei Leserkanone.de
zum Durchblättern
Wahrheit gegen Hoffnung
Scheinwelt
Einsam
Erinnerung
Unordnung
Achtsamkeit
Umkehr
Wahrheit, keine Hoffnung
Kein Zurück
himmlischer Zustand
Der Autor dankt der geduldigen Lektorin Tamara Haschke für die erste Durchsicht des Manuskripts, die konstruktiven Anmerkungen und Korrekturen.
Die Uhr läuft rückwärts – und mit ihr das Leben Edgar Bernardis Kurzgeschichte „Zeitumkehr” ist eine dieser Erzählungen, die einen nach der letzten Seite nicht mehr so schnell loslassen. Auf den ersten Blick scheint sie eine schlichte Geschichte über Krankheit und Sterben zu sein, doch dahinter verbirgt sich ein tiefgründiges Gedankenexperiment über Zeit, Bewusstsein und den menschlichen Drang, dem Tod zu entkommen. Im Mittelpunkt steht Konrad, ein rationaler Physiker, der erfährt, dass er schwer erkrankt ist und nur noch wenige Tage zu leben hat. Typisch für seinen Charakter – und hier zeigt sich Bernardis psychologisches Fingerspitzengefühl – reagiert er nicht mit Emotionen, sondern mit Berechnung. Er „errechnet” sich fast mechanisch die verbleibenden zehn Tage seines Lebens. Was dann folgt, ist keine platte Krankheitsgeschichte, sondern ein innerer Monolog, ein Ringen zwischen Verstand und Verdrängung. Besonders stark ist, wie Bernardi Konrads Wunsch zeichnet, das Leben noch einmal in all seinen Facetten zu genießen, während der Schatten des Todes immer größer wird. Das Bewusstsein und seine Wahrnehmung der Zeit werden zu zentralen Themen: Kann man Zeit verlängern, indem man sie intensiver erlebt? Kann man sie sogar „zurückdrehen”, wie es der Titel andeutet? Der Autor deutet vieles nur an und überlässt es der Leserschaft, selbst nachzuspüren. Sprachlich ist „Zeitumkehr” klar, aber nicht nüchtern. Immer wieder bricht durch die sachliche Fassade eine fast lyrische Melancholie, die die Geschichte trotz ihres physikalischen Hintergrunds sehr menschlich macht. Das Cover wirkt – ehrlich gesagt – etwas befremdlich und passt nicht ganz zum Inhalt: Es ist „nicht so frisch”, vielleicht sogar leicht seltsam, während der Text selbst sehr präzise und zeitlos wirkt. Was diese Kurzgeschichte so lesenswert macht, ist ihre Mischung aus existenzieller Tiefe und erzählerischer Knappheit. Ohne viel Pathos, aber mit kluger Symbolik führt Bernardi vor, wie jemand, der immer nur verstandesgeleitet war, plötzlich merkt, dass sich das Leben nicht berechnen lässt. Wer hier einen klassischen Plot erwartet, wird überrascht – es ist mehr ein gedankliches Kammerspiel über die Angst vor dem Tod und den Wunsch, ihm zu entkommen. „Zeitumkehr” ist also kein leichter Lesestoff, aber ein umso nachhaltigerer. Nach der Lektüre bleibt das Gefühl zurück, dass man selbst über Zeit, Vergänglichkeit und den eigenen Umgang damit nachdenken sollte. Eine empfehlenswerte Kurzgeschichte für alle, die gern lesen, was zwischen den Zeilen passiert. K. Schmitt - Teilnehmerin der Leserunde bei Lovelybooks
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